Des Genossen Tinos Lieblingsthema ist die „sozialistische Demokratie“.
Und er hat ja Recht – 70 Jahre Stalinismus belasten auch heute noch jede Debatte über Alternativen zum Kapitalismus.
Aber so richtig es ist, jeder „gedankliche(n) Verbindung von Sozialismus und autoritärer Gesellschaft“ massiv und selbstkritisch(!) entgegen zu treten, so falsch ist es, in der „Demokratie-Frage“ Luxemburg grundsätzlich gegen Lenin, Trotzki und die Bolschewiki in Stellung zu bringen.
Das besorgen seit nunmehr fast hundert Jahren schon Geschichtsschreibung und Feuilleton der Beourgeoisie – und sie haben dafür gute Gründe.
Zwischen Luxemburg und Lenin gab es einige ernsthafte Differenzen, etwa in der Frage unterdrückter Nationalitäten (die Tino bemerkenswerterweise außen vor lässt) oder in der Imperialismus-Theorie oder in der Kontroverse über den richtigen Zeitpunkt der Gründung der III. Internationale – darauf kann hier nicht eingegangen werden (seit kurzem nur noch 3000 Zeichen pro Kommentar).
Auch in der Beurteilung der Massenspontaneität, in der Frage wie Klassenbewusstsein entsteht oder der Einschätzung des notwendigen Grades von Zentralisierung in Partei und (sozialistischer) Gesellschaft haben die Beiden so manchen Strauss ausgefochten.
Natürlich berührte das auch das „Demokratie-Thema“, aber „die“ Demokratie, die grundsätzliche Haltung zur bürgerlichen und proletarischen Demokratie war kein wirklicher Streitpunkt, sondern wurde und wird aus durchsichtigen Gründen aufgebauscht.
Nun scheint das von Tino gebrachte Luxemburg-Zitat das Gegenteil zu belegen (ich gebe zu, dass ich es bisher nicht kannte).
Das Problem mit der „Klassiker-Zitiererei“ ist, dass mensch nicht nur bei Marx und Lenin, sondern auch bei Luxemburg für fast jede Position irgendwo eine „Beleg“stelle findet.
Natürlich war Luxemburg nicht mit allem einverstanden, was die Bolschewiki veranstalteten, aber sie war eine leidenschaftliche Verteidigerin der russischen Revolution, der Zerschlagung des bürgerlichen Staates und der Räteherrschaft – auch dafür gibt es massenweise Zitate, wie Tino sehr wohl weiß.
Ich möchte nicht Luxemburg selbst zitieren, sondern Ossip K. Flechtheim, der – des Bolschewismus wahrlich unverdächtig – Luxemburg mit folgenden Worten (und sich stützend auf Original-Zitate) gegen eine Vereinnahmung durch „Demokraten“ verteidigte:
„…betont R. Luxemburg, dass der Widerstand der imperialistischen Kapitalistenklasse, die die „Brutalität, den unverhüllten Zynismus, die Niedertracht aller ihrer Vorgänger überbietet“, nur „mit eiserner Faust, rücksichtsloser Energie“ gebrochen werden kann.
Im gewaltigsten Bürgerkrieg, den die Weltgeschichte je gesehen, muss das Proletariat die ganze Staatsgewalt den herrschenden Klassen „wie der Gott Thor seinen Hammer“ auf’s Haupt schmettern.
Hier „gilt dem Feinde das Wort: Daumen auf’s Auge und Knie auf die Brust!“
(Aus der Einführung zu Abendroth/Flechtheim/Fetscher, Rosa Luxemburg – Politische Schriften, Band I – III, EVA 1972).
„Demokratischer Luxemburgismus“ versus „diktatorischer Bolschewismus“ ist also eine Fata Morgana.
Gleichwohl stimmt aber, dass ein solche „Thor-Behandlung“ im Verlauf der Bürokratisierung und Degeneration der russischen Revolution nicht nur dem „Feind“ widerfuhr.
Erste Alarmzeichen gab es schon weit vor Lenins Tod.
Das „Fraktionsverbot“ innerhalb der Bolschewiki z.B. – dass Trotzki sehr viel später, ich glaube in seiner „Kopenhagener Rede“, als einen der schwersten Fehler der Bolschewiki bezeichnete – datiert von 1921, als die Ermordung Luxemburgs schon zwei Jahre zurück lag.
Das eine moderne sozialistische Demokratie auch die „formalen“, politischen Freiheitsrechte ausbauen und nicht einschränken muss/wird, unterschreibe ich sofort.
Auf den Punkt gebracht:
Im Sozialismus darf jeder unabhängig von seiner Klassen- oder Parteizugehörigkeit sagen, dass der Sozialismus Scheiße ist – auch Friede Springer, die dabei allerdings auf ihre selbstredend vergesellschafteten Druckmaschinen verzichten muss.
Eine solche Position ist aber Contrapunkt zu Lenin UND Luxemburg.
Leider ist auch Tinos Sicht auf die beiden Demo-Bündnisse verzerrt einseitig.
Was das Aufrufer-Spektrum der traditionellen LL-Demo angeht, haben wir sicher keine Differenzen – das sind (mit Ausnahme etwa von ARAB) Poststalinisten / Traditionskommunisten (und das ist noch freundlich formuliert).
Aber der Charakter einer Demo ergibt sich nicht nur aus dem Aufruf / den Aufrufern, sondern auch und vor allem daraus, wer mit welchen Losungen dort hingeht.
Die „Friedrichshainer“ Demo ist eben auch eine mittlerweile traditionelle Manifestation der (fast) gesamten revolutionären Linken, die hier Luxemburg und Liebknecht gedenkt und das politische Signal aussenden will, dass der Kapitalismus nicht das letztre Wort der Geschichte ist.
Daran ändern auch ein paar mitgeführte Stalin-Bilder nichts.
Sowenig die LL-Demo nur ein „lebloses Ritual“ von Hardcore-Stalinisten ist, so falsch wäre es, die alternative „Rosa + Karl – Demo“ pauschal als „Noske-Jugend“ zu diffamieren.
Dass sie eine lebhafte Debatte angestoßen haben, stimmt.
Aber wenn die SPD-Jugendorganisation zum Luxemburg-Gedenken (mit)aufruft und gleichzeitig im entsprechenden Demo-Aufruf kein Wort zur Mitverantwortung der Mutterorganisation bei der Ermordung Luxemburgs verloren wird, sollte schon mal kritisch nachgefragt werden dürfen.
Nichts gegen und alles für „Einheitsfront von oben“, aber manchmal muss auch „anlassbezogen“ diskutiert werden.
Die Kapitalismus-Kritik des R + K – Aufrufs ist präziser und differenzierter als das volksfrontistische „Friede und Fortschritt“ – Gelaber der „Friedrichshainer“.
Aber:
Auch die „elaborierteste“ Kapitalismus-Kritik taugt nichts, solange sie sich nur an sich selbst ergötzt.
Soll heißen:
Ich bin auch gegen personalisierende oder gar biologisierende Kapitalismus-Kritk (Zocker, Heuschrecken etc.), trotzdem haben Ausbeutung und Unterdrückung „Namen und Adresse“, die wir auch benennen müssen (etwa wenn es um die Agenda-Politik der SPD geht).
Die Linie der Berliner NAO-Gruppen war m. E. also völlig richtig:
Intervention auf der traditionellen LL-Demo, aber mit dem Front-Transpi
„Weder Noske noch Stalin“.
Das hat uns einige Aufmerksamkeit und Sympathie gebracht.
Leider muss ich feststellen, dass ich weit über der in der neuen Netiquette festgelegten Zeichenobergrenze für Kommentare bin.
Deshalb sehe ich mich gezwungen, dass als Artikel zu posten – Sorry!